Meinung: Der bedrohte amerikanische Traum

Apps und soziale Medien bringen kaum etwas für Produktivität und Wohlstand, meint der renommierte US-Ökonom Robert J. Gordon. Ist die Zeit der großen Erfindungen wirklich vorbei?

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Von
  • David Rotman

Rotman ist Redakteur der US-Ausgabe von Technology Review.

Thomas Edison testete die erste praxistaugliche Glühlampe, Carl Benz entwickelte einen funktionierenden Verbrennungsmotor, und ein britisch-amerikanischer Erfinder namens David Edward Hughes übertrug ein Signal drahtlos über einige Hundert Meter. All das geschah innerhalb von nur drei Monaten Ende 1879, und es ist nur eine kleine Auswahl aus vielen bemerkenswerten Durchbrüchen zwischen 1870 und 1970. Robert J. Gordon, Ökonom an der Northwestern University in Illinois, bezeichnet diese Jahre als "besonderes Jahrhundert" – eine Zeit mit beispiellosem Wirtschaftswachstum und Verbesserungen des Lebensstandards.

Und das Wachstum nach 1970? "Gleichzeitig schillernd und enttäuschend", so Gordon. PCs und Internet sollen wichtig sein? Vergleichen Sie diese Erfindungen mit dem dramatischen Rückgang der Kindersterblichkeit oder den Auswirkungen von sanitären Einrichtungen auf die Lebensbedingungen.

Die explosionsartige Zunahme der Erfindungen im "besonderen Jahrhundert" und der dadurch ausgelöste wirtschaftliche Fortschritt dürften sich nicht wiederholen, argumentiert Gordon in seinem neuen Buch "The Rise and Fall of American Growth" (Princeton University Press, 2016). Gegen 1870 war das Leben geprägt von "mühseligen Hausarbeiten, Dunkelheit, Isolation und frühem Tod", schreibt er. Bis 1970 aber habe sich das Leben der Amerikaner vollkommen verändert: "Die wirtschaftliche Revolution von 1870 bis 1970 war einzigartig in der menschlichen Geschichte, unwiederholbar, weil so viele ihrer Errungenschaften nur einmal möglich waren."

Sein Buch richtet sich gegen die Meinung der "Techno-Optimisten", wonach die gegenwärtigen digitalen Innovationen unsere Wirtschaft neu definieren und unser Leben massiv verbessern werden. Blödsinn, meint Gordon. Die Wirtschaftsdaten lieferten keine Belege dafür.

Tatsächlich fällt das Produktivitätswachstum in den USA seit mehr als einem Jahrzehnt enttäuschend aus. Es bildet die Grundlage für das Gedeihen von Unternehmen und Nationen – und zumindest potenziell auch für höhere Gehälter. In einem aktuellen Aufsatz schreibt John Fernald, Ökonom bei der Federal Reserve Bank of San Francisco, dass die derzeitige Stagnation etwa 2004 begonnen habe. In den letzten fünf Jahren sei das Produktivitätswachstum in den USA so schwach wie nie seit dem späten 19. Jahrhundert.

Das zwingendste und unheilvollste an Gordons Darstellung sind die nackten Zahlen. Ökonomen definieren Produktivität üblicherweise als das, was ein Arbeiter pro Stunde produziert. Wie hoch sie ist, richtet sich nach den Faktoren Kapital (wie Ausrüstung und Software) und der Arbeitskraft – wenn Menschen mehr Werkzeuge und mehr Fertigkeiten haben, sind sie produktiver.

Verbesserungen auf diesen beiden Gebieten können allerdings nicht den gesamten Produktivitätszuwachs erklären. Den Rest schlagen Ökonomen deshalb der sogenannten Gesamtfaktorproduktivität zu. Diese ist eine Art Sammel-becken für alles Mögliche von neuen Maschinen bis zu effizienteren Geschäftspraktiken. Für Gordon ist sie "unser bestes Maß für das Tempo von Innovation und technischem Fortschritt".

Von 1920 bis 1970 ist diese Gesamtfaktorproduktivität in den USA laut Gordon um durchschnittlich 1,89 Prozent jährlich gestiegen. Von 1970 bis 1994 schleppte sie sich mit nur noch 0,57 Prozent Wachstum dahin. Dann wird es wirklich interessant: Von 1994 bis 2004 springt sie zurück auf 1,03 Prozent pro Jahr. Dies war der große Schub durch Computer und das Internet. Doch die IT-Revolution war kurzlebig, argumentiert Gordon. Die Smartphones und sozialen Medien beeindrucken ihn wenig. Tatsächlich sank die Zunahme der Gesamtfaktorproduktivität von 2004 bis 2014 wieder auf 0,4 Prozent. Und auf diesem Niveau, meint Gordon, werden wir wahrscheinlich bleiben. Der technische und wirtschaftliche Fortschritt habe sich dauerhaft verlangsamt.

Diese Zahlen sind wichtig. Schwaches Produktivitätswachstum mache eine schnelle wirtschaftliche Expansion und eine massive Verbesserung des Lebensstandards wie Mitte des 20. Jahrhunderts unmöglich. Gemeinsam mit zunehmender Ungleichheit und schlechterer Bildung erklärt dies für Gordon, warum sich viele Amerikaner finanziell so schwertun. Für die meisten von ihnen steigen die Löhne einfach nicht schnell genug – außer bei Spitzenverdienern sind die Realeinkommen zwischen 1972 und 2013 sogar gesunken. Und besser dürfte es nicht werden, warnt Gordon: Der Median des verfügbaren Einkommens werde bis 2040 nur um traurige 0,3 Prozent pro Jahr zunehmen.

Kein Wunder also, dass so viele Amerikaner unzufrieden sind. Sie spüren, dass sie finanziell niemals so abgesichert sein werden wie ihre Eltern oder Großeltern – und, was für viele noch unschöner ist, ihre Kinder auch nicht. Gordon zufolge liegen sie damit wahrscheinlich richtig.

Es gibt Belege dafür, dass fehlendes Wachstum bereits hässliche Folgen hat. Ende 2015 beschrieben die Princeton-Ökonomen Anne Case und Angus Deaton eine verstörende Entwicklung unter weißen Männern zwischen 45 und 54 Jahren: Von 1999 bis 2013 gab es in dieser Altersgruppe einen beispiellosen Anstieg bei Erkrankungen und Sterblichkeit, der die Fortschritte mehrerer Jahre zunichte machte: mehr Selbstmorde, mehr Drogenmissbrauch, mehr Alkoholismus. Die Gründe sind unklar, doch die Autoren bieten eine vorsichtige Erklärung an: "Nach der Produktivitätsverlangsamung in den frühen 1970er-Jahren und durch die zunehmende Einkommensungleichheit sind viele Mitglieder der Babyboomer-Generation die Ersten, die in der Mitte ihres Lebens feststellen, dass sie es nicht besser haben werden als ihre Eltern."

Wenn robuster wirtschaftlicher Fortschritt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dazu beigetragen hat, eine Stimmung des Optimismus und Fortschrittsglaubens zu schaffen – haben dann die wachstumsschwachen Dekaden zu Unglück und Frustration geführt? Hinweise darauf sind überall zu finden: Mit Sicherheit spielt Wut über die Wirtschaft eine Rolle im aktuellen US-Präsidentschaftswahlkampf. Donald Trump als führender Kandidat der Republi- kaner verspricht, wenn auch etwas abstrakt, "Amerika wieder groß zu machen". Ähnliche Anzeichen von Wachstumsnostalgie sind auch bei den Demokraten zu beobachten, insbesondere beim Wirtschaftsplan von Bernie Sanders, der ein Produktivitätswachstum von 3,1 Prozent vorsieht – ein Niveau, das seit Jahrzehnten nicht mehr erreicht wurde.

Spekulationen darüber, wie sich wirtschaftliche Stagnation auf die Stimmung im Land auswirkt, sind natürlich heikel. Auch in Zeiten starken Wachstums gab es heftige Ausbrüche politischer Unzufriedenheit, etwa in den 1960ern. Zudem kann man die Schuld für die schleppende Wirtschaft heute nicht allein dem schwachen Produktivitätswachstum geben. Aber wäre es trotzdem möglich, dass fehlender technischer Fortschritt uns zu einer schwierigen Zukunft verdammt, während wir noch unsere neuesten Gadgets feiern?

Gordons pauschaler Pessimismus klingt jedoch häufig ungerecht, sogar willkürlich. Digitale Fortschritte wie 3D-Druck, künstliche Intelligenz und autonome Autos tut er ab, weil sie nur begrenztes Potenzial hätten, die Produktivität zu steigern. Und die potenziellen Auswirkungen von aktuellen Durchbrüchen bei Gen-Editierung, Nano- und Neurotechnologie ignoriert er völlig. Man muss jedoch kein Techno-Optimist sein, um zu glauben, dass radikale und potenziell lebensverändernde Technologien keine Sache der Vergangenheit sind.

In seinem Artikel "Is Innovation Over?" räumt Tyler Cowen eine "Stagnation des technischen Fortschritts" ein, kommt aber trotzdem zu dem Schluss, dass es reichlich Gründe zur Hoffnung gebe: "Es gibt heute mehr Naturwissenschaftler als je zuvor. Bei künstlicher Intelligenz, Biotechnologie und Therapien gegen Geisteskrankheiten könnte es große Fortschritte geben. Ich sage nicht, dass das schon morgen passiert – es könnte noch 15 oder 20 Jahre dauern. Aber wie soll man wissen, dass es nicht dazu kommt?"

Ähnlich argumentiert Daron Acemoglu, Ökonom am Massachusetts Institute of Technology. "Es kann gut sein, dass sich diese Innovationen noch nicht in der Produktivität niedergeschlagen haben", findet er. "Aber allein die Technologien, die vor Kurzem erfunden wurden und in den nächsten fünf bis zehn Jahren umgesetzt werden dürften, sind bemerkenswert vielfältig. Das macht es schwer zu glauben, dass wir uns in einem Zeitalter der Innovationsarmut befinden." Noch weniger überzeugend sei die Erwartung, dass wir mit den aktuellen Innovationen künftig nicht die Produktivität werden steigern können. Eine der Schwächen von Gordons Buch liegt für Acemoglu darin, dass es Innovation wie "Manna vom Himmel" behandelt. Es sei "einfach zu sagen, Produktivität entstehe durch Innovation.

Aber woher kommt Innovation, und wie wirkt sie sich auf die Produktivität aus?" Antworten auf solche Fragen könnten helfen, technische Fortschritte so einzusetzen, dass ihre wirtschaftlichen Vorteile maximiert werden. Investieren wir in eine Infrastruktur für autonome Autos? Geben wir breiten Bevölkerungsschichten Zugang zu neuartigen Therapien? Können digitale Hilfsmittel die vielen neuen Dienstleistungsjobs im Gesundheitswesen oder in der Gastronomie produktiver machen? Gordon geht auf diese Fragen nicht ein. Aber trotz der Schwächen ist sein Zwischenruf ein nützliches Gegengewicht zu der verbreiteten Ansicht, wir befänden uns inmitten einer bedeutenden Technologie-Revolution.

"Es ist eine gesunde Debatte", findet Acemoglu. "Die Techno-Optimisten hatten einen zu langen Lauf, ohne infrage gestellt zu werden." Die großen Erfindungen des späten 19. Jahrhunderts haben das Leben so sehr verändert, wie es niemals mehr der Fall sein wird. Auch das dafür so förderliche Umfeld wird nie zurückkommen. Aber wenn wir das Potenzial der heutigen Innovationen besser verstehen, es vollständig sowie wirtschaftlich und gesellschaftlich gerecht zur Geltung zu bringen, haben wir zumindest eine Chance, wieder schneller voranzukommen. (bsc)