Die Mär vom rasenden Fortschritt

Seite 3: Disruption ist keine Überraschung

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"Viele Prinzipien, mit denen wir arbeiten, sind wahnsinnig alt", sagt auch Daimler-Zukunftsforscher Alexander Mankowsky. "Das Prinzip der Prozessoren wurde Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelt, das maschinelle Lernen wird in C++ programmiert, einer 40 Jahre alten Programmiersprache." Was wirklich passiert: Bereits Bekanntes wird immer schneller. Während sich das Grundprinzip der Computerchips in all den Jahrzehnten nicht geändert hat, ist ihre Leistung exponentiell gestiegen. Wer daraus jedoch schließt, dass fortan der gesamte technologische Fortschritt exponentiell verläuft, begeht einen Denkfehler. Weil jedes Jahr neue Smartphones auf den Markt kommen, können wir in zehn Jahren noch lange keinen Krebs heilen.

Die Zukunft

Nur wer später startet, muss schneller rennen. Das beste Rezept gegen den atemlosen Wettlauf ist daher: früher loslaufen. "Disruption kommt nur für die überraschend, die sich nicht mit den wissenschaftlichen Trends beschäftigen", sagt Wolfgang Wahlster, Direktor des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz DFKI. Zu seinem Leidwesen tun das deutsche Unternehmen nicht. "Der Begriff Industrie 4.0 ist ein Konzept aus Deutschland, das wir 2010 geprägt haben." Erst als er zeitverzögert als Industrial Internet in den USA aufgegriffen wurde, stieg in deutschen Unternehmen das Interesse stark an. Chatbots? Schon Ende der 1990er habe er den ersten seiner Art für den Versandhändler Otto entwickelt.

"Vor 60 Jahren hatte man schon einfache mehrschichtige neuronale Netze – und viele Vorstandsvorsitzende hören jetzt den Begriff maschinelles Lernen zum ersten Mal." Warum sich dennoch viele förmlich überrannt fühlen, komme daher, "dass Entwicklungen oft erst dann ernst genommen werden, wenn sie aus dem Silicon Valley in englischer Übersetzung zurückkommen".

Die Folgen sind kühne Zukunftspläne, die zum hektischen Innovationstheater verkommen: zum So-tun-als-ob. Plötzlich wimmelt es von superintelligenten Robotern, Ideen für Gehirn-Uploads und fliegenden Autos – gerade so, als stünden diese Dinge direkt vor der Tür. "Das fliegende Auto wird Realität" titelten viele Medien (wie hier die "Welt") angesichts einer Ankündigung der europäischen Firma AeroMobil – ungeachtet dessen, wo eigentlich der praktische Nutzen liegen soll, ungeachtet des hohen Preises – vor allem aber ungeachtet dessen, ob ein Kleinflugzeug überhaupt etwas Neues ist. Von fliegenden Autos träumen wir schon eine ganze Weile – "und im privaten Segment werden wir davon auch noch eine Weile weiterträumen", sagt Daimler-Zukunftsforscher Mankowsky.

Noch ferner der Realität ist die Idee, Gehirne von Menschen auf Maschinen zu übertragen. Über das menschliche Gehirn ist schlicht noch viel zu wenig bekannt, Forscher des Human Brain Project zweifeln sogar, ob es überhaupt einigermaßen realistisch simuliert werden kann.

Aber Konzepte und Computeranimationen sind leicht zu erfinden. Sobald es konkret werden soll, bleiben die Aussagen erstaunlich nebulös. "Wir entwickeln intelligente, bedeutsame Geräte", sagt beispielsweise einer von Boschs Disruptionsexperten im YouTube-Film. "Wir werden Zeit sparen und in der gleichen Zeit mehr arbeiten. Das wird die Zukunft sein – und Bosch weiß das." Das also ist das nächste große Ding.

Dabei entstehen auch im Silicon Valley keine Wundermaschinen. Kuri beispielsweise ist derzeit einer der meistgehypten Roboter für Privatkunden. Er erinnert in Gestalt und Größe an einen Pinguin, das Start-up Mayfield Robotics hat ihn im Januar 2017 auf der Hightech-Messe CES in Las Vegas vorgestellt. Was kann er? Vielleicht sprechen? "Nein, das kann Kuri natürlich nicht", sagt Marketingchef Chris Matthews. Trotz der jüngsten Erfolge im maschinellen Lernen gibt Kuri nur roboterartige Laute von sich. Die Technologie sei viel zu fehleranfällig, ständig gebe es Missverständnisse, sagt Matthews.

Das verärgere die Nutzer doch nur. "Wir wollen, dass die Begegnung mit Kuri zu einem perfekten Erlebnis wird." Er kann auf Wunsch beispielsweise Musik abspielen, seinen Besitzer informieren, falls eine bestimmte Person das Haus betritt. Kuri lässt sich per Smartphone fernbedienen, wenn sein Besitzer nicht zu Hause ist. Dann kann dieser durch Kuris Kamera-Augen schauen und durch seinen Lautsprecher reden. Während Forscher davon schwärmen, wie eine KI-Methode namens Deep Learning die Spracherkennung vorantreibt, verzichten die Praktiker lieber noch auf sie.

Vielleicht tun wir gut daran, uns einen Umstand einzugestehen: Wirklich bahnbrechende Erfindungen fallen unglaublich schwer. Die Erwartung, dass exponentiell ansteigende Rechenpower und künstliche Intelligenz die Prozesse beschleunigen, wird sich wohl nicht erfüllen. Vielleicht droht sogar das Gegenteil. "Künstliche Intelligenz könnte für eine Verlangsamung der Entwicklung sorgen, weil sie auf Basis von Daten aus der Vergangenheit lernt", fürchtet Daimler-Zukunftsforscher Mankowsky.

Konsequent zu Ende gedacht sei eine Zukunft mit künstlicher Intelligenz eine Wiederholung des ewig selben. "Wenn man zehn Rembrandts hat, kann man den elften automatisch malen." Filme und Fernsehserien könnten zwar auf der Basis von KI geschrieben werden – aber mit dem Erfolg, dass alle ähnlich wären. Eine Neuerung wie Dada, was damals eine echte Innovation war, sei in einer solchen Zukunft undenkbar. "KI ist das Gleiche in Varianten", sagt Mankowsky. Computer haben keine Visionen. Und sie sind nicht innovativ. Menschen sind es. Aber dafür brauchen sie Zeit. Das Denken lässt sich nicht auf Befehl beschleunigen.

(bsc)